Das Schreiben und wir – Drei Autor*innen, ein Gespräch

Ein Gespräch unter alten Bäumen zwischen den Autor*innen Jess Tartas, Ina Steg und Morton Tartas über das Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron. Notizen, Gedanken und Erfahrungen über eine andauernde Reise, das Schreiben, den Mut, zu scheitern, liebevolle Weggefährten und das Selbstbild als Künstler*in.

 

Wie das Buch „Der Weg des Künstlers“ zu uns fand und warum wir uns entschlossen, es durchzuarbeiten.

 Jess: Die Autorin und Kabarettistin Andrea Schomburg gab ein Theaterseminar an meiner Uni. Natürlich ging es hauptsächlich um Schauspiel, dennoch war ihre Lehre auch von ihrer Tätigkeit als Autorin geprägt. Ich sah in ihr eine außergewöhnliche Ansprechpartnerin und sagte in der letzten Sitzung frei heraus: „Ich will als Schriftstellerin arbeiten und davon leben können.“ Es gehört Mut dazu, dies so offen auszusprechen, denn oft wird man dafür belächelt oder stößt sogar auf Ablehnung und erhält Ratschläge, die einem davon abraten, es überhaupt zu versuchen. Frau Schomburg war aber ausgesprochen ermutigend und riet mir, mit dem „Weg des Künstlers“ zu arbeiten. Es hätte auch ihr geholfen, den Einstieg zu finden. Ich nahm ihren Rat ernst und bestellte mir umgehend das Buch in der kleinen Buchhandlung, die auf dem Heimweg von der Uni zu meiner Wohnung liegt. Am nächsten Tag ging es dann los.

Jess Tartas

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Morton: Als Künstler empfand ich mich trotz der Gedichte, Theaterstücke oder Kurzgeschichten, die ich in meiner Jugend schrieb, zu keiner Zeit. Dann, als meine Geliebte, Jess, in einem Theaterseminar von der Dozentin das Buch empfohlen bekam, nahm Jess mich gleich mit auf den Weg des Künstlers. Es klang so sehr nach uns, die wir viel schrieben, aber nicht so recht wussten, wohin mit den Worten. Zu Beginn der Arbeit mit dem Buch kam wohl die Frage auf, was wäre denn, würden wir es ernst meinen, würden schreiben, um davon zu leben? Vor dem Buch lautete die Antwort darauf: Kategorienfehler, die Frage ist falsch gestellt, ich kann das nicht. Durch das Buch entkräftete sich diese kreative Kasteiung, es ist nun mehr folgende Antwort: Klar, mach doch!

Das Gemeinsame, das wir durch die Seiten des Buches nun teilten, war gespickt von unseren beiden Perspektiven, Zweifeln und Hoffnungen. Ich glaube, dass eine große Triebfeder, das Buch zu nutzen, die morgendlichen drei Seiten freien Schreibens sind. Ein Ritual, dass wir beide bis heute beibehalten.

Morton Tartas

 

Ina: Vor zwei Jahren verlor ich plötzlich die Leidenschaft am Schreiben. Ich arbeitete zu dem Zeitpunkt an der Entwicklung einer neuen Geschichte deren Figuren ich sehr mochte und auf die ich mich freute, aber trotzdem hatte ich keine Leichtigkeit mehr am Schreibtisch und ich kam kaum noch voran. Ich machte mich auf die Suche nach einem Schreibratgeber, in der Hoffnung, dass mich neue Denkanstöße motivieren könnten. Eher durch Zufall fand ich im Netz Camerons Buch. Ein Glücksfall. Ich fasste bereits nach den ersten Seiten den Mut, beim Schreiben eine Pause einzulegen und mich ganz und gar den wöchentlichen Aufgaben zu widmen. Nach und nach kam die Lust auf das Schreiben zurück und ich konnte mir dank der vielen unterschiedlichen Anregungen einen tolle Schatzkiste zusammenstellen, auf die ich nun immer wieder zurückgreifen kann.

Ina Steg

 

Wenn die Kreativität nicht fließt und was uns dann hilft.

 Morton: Nachdem ich verstanden habe, dass etwas meine Kreativität im festen Griff der Unproduktivität hat, geht es oft darum, die Ursache und Hilfsmittel dagegen zu erkennen. Zumeist ist es das Gespräch mit Jess, sie schreibt selbst und ist meine Gefährtin. Manchmal sind die Probleme klein, so wie Wetterfühligkeit oder Übermüdung. Dafür lässt sich mit einem Spaziergang sorgen.

Jedoch muss nicht immer etwas Problematisches vorliegen. Es kommt schließlich auch vor, dass die Geschichten mehr hergeben wollen, als ich selbst zu schreiben weiß. In solchen Fällen ist es auch wieder der Austausch, der die Kohlen anheizt, auf welchen ich bei freudigem Schreiben sitze.

Ein weiteres Kreativmittel ist für mich Musik. Ich versuche mich der Neugierde wegen, an verschiedenen Instrumenten oder probiere neue Griffe auf der Gitarre, die ich noch am besten beherrsche. Dies führt mich dann zur Musik von den Smashing Pumpkins, Nick Cave und Amanda Palmer. Deren Klänge wiederum wecken den Wunsch nach dem Draußen, frischer Luft und spazieren im Wald. All diese Handlungen sind an das Lesen anderer Autor*innen gekoppelt. So begleitet mich ein Buch in den Wald, in die U-Bahn und tapst mir in der Wohnung in jedes Zimmer hinterher. Die Worte darin, die linguistisch gezeichneten Bilder, sie stoßen mich an und machen mich sagen: Genauso will ich das auch!

 

Ina: Früher dachte ich, ich müsse auch in so einer Situation dranbleiben und unbedingt weitermachen. Jetzt mache ich viele Pausen, besonders wenn es gut läuft, denn mittlerweile weiß ich, dass ich mich dann besonders schnell auspowere und meine kreative Kraft verschleudere. Wenn ich neue Ideen brauche, gehe ich gerne spazieren, ohne bewusst über etwas nachzudenken. Mir helfen bunte, verrückte und liebevolle neue Eindrücke. Ich liebe zum Beispiel Museumsshops. Dort ist es oft ganz still und man kann andächtig durch Bildbände blättern oder die vielseitigsten Postkarten betrachten.

Ich beschäftige mich auch immer wieder mit ganz neuen Dingen, die gar nichts mit dem Schreiben zu tun haben. Neulich habe ich Kekse gebacken und sie mit Smarties und Pflaumenmus gefüllt. Ich kehre aus solchen Momenten mit viel Freude und Lust auf das Schreiben zurück. Es hilft mir außerdem, mich mit anderen über meine Sorgen auszutauschen. Ich stelle dann fest, dass ich damit gar nicht alleine bin und ich nicht zu streng mit mir sein sollte.

Schuber der Inspiration von Ina mit Stickern, Kinderbüchern, Zeitschriften, Briefen und Theater-Programmheften.

 

Jess: Manchmal brauche ich Abwechslung im Alltag und dann wieder Ablenkung vom Alltag. Inspiration erhalte ich durch Ortswechsel, beim Lauschen in der Stille, aber auch durch ein Wort, das Gedanken anstößt. Ich muss mir Zeit für Beobachtungen nehmen und was für mich ganz wichtig ist: Bücher lesen, Filme sehen, Hörspiele und Musik hören. Ich ziehe viel Kraft aus der Arbeit anderer. Manchmal inspiriert mich ein Satz in einem Text zu einer neuen Kurzgeschichte. Körperliche Bewegung tut mir auch gut, weil sie meine Gedanken nachhaltig in Bewegung versetzt. Es ist wichtig, mal ganz und gar Abstand vom Text zu nehmen und ihn liegenzulassen. Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen sind für mich auch essenziell, um ein Wir-Gefühl zu spüren und neue Ansätze kennenzulernen. Oh, und gutes, frisches Essen ist sehr wichtig. Schreiben ist ein ziemlich ganzheitlicher Prozess.

 

Was wir beim Schreiben um uns brauchen.

Ina: Wenn ich an einer Geschichte sitze, habe ich immer das entsprechende Notizbuch neben dem Tisch liegen. Für jedes Projekt habe ich ein eigenes Buch, damit nichts durcheinandergerät. Außerdem lege ich mir für jedes Projekt eine kleine Kiste an, in der ich Sachen sammle, die mir bei der Recherche begegnen oder die mich inspirieren. Für „Letzte Zutat Liebe“, in der die Hauptfigur Laura eine Astronautin ist, hatte ich unter anderem einen Bildband über das Weltall darin liegen, eine Spielzeug-Astronautinnen-Figur als Glücksbringer sowie ganz viele Notizzettel, auf denen ich mir Zitate von Astronaut*innen notiert hatte, als ich Dokumentationen der NASA über ihre Weltraumflüge geschaut habe.

Wenn es mir nicht gut geht, brauche ich die gute Energie von anderen. Dann klappe ich meine aufstellbare Pinnwand auf. Daran hängen Postkarten und Briefe von Freunden und meiner Familie sowie Bilder aus Filmen, die mir viel bedeuten. Wenn ich an meiner Steuererklärung sitze, ist der Tisch aus gegebenem Anlass ganz leer und eine Ödnis, da darf mich nichts ablenken, sonst ist es um meine Konzentration ganz schnell geschehen.

Ich arbeite manchmal in der Küche und mal an einem ausklappbaren Tisch im Wohnzimmer, was den Vorteil hat, dass ich nach jedem Projekt immer alles wegräume und beim nächsten Mal wieder Platz für Neues ist. Mir tut das gut, denn es ist jedes Mal wie ein neuer Start.

 

Jess: Am allerwichtigsten ist Ordnung für mich. Keine Pedanterie, aber es darf nichts herumliegen, was eigentlich weggeräumt gehört, weil es mich sonst zum Aufräumen verleitet. Ich muss also darauf achten, meinen Gedanken den Raum zu geben, den sie zum Wandern brauchen. Meine Augen dürfen nicht am Haushalt hängenbleiben, das bereitet auch irgendwie schlechte Laune. Ich habe aber sehr wohl Dinge um mich. Ich habe eine kleine Galerie von Fotos mit mir und Menschen, dir mir nahestehen und jenen, die ich bewundere und treffen durfte. Sibylle Berg, Heinz Strunk, Lindsey Way und Alfred Ladylike. Und auch ihr, Ina und Mort, seid an meiner Wand über dem Schreibtisch. Ich mag Gegenstände, die meine Fantasie anregen.

Gerade versammeln sich auf meinem Arbeitsplatz eine Hexenfigur, ein Hase und ein Zauberbuch vom Künstler Jon Carling, ein Holzwürfel von meiner Mentorin („Manchmal muss man würfeln“, schrieb sie mir dazu), Ganesha, ein kleines Stück vom Boden meiner alten Jugend-Disco, Actionfiguren von Rey Skywalker und Kylo Ren aus Star Wars, Bohnen und ein Schokofrosch aus Harry Potter, ein Bild von Fieberherz und ein alter Silberring. Es geht noch weiter: ein Zauberkessel von Bibi Blocksberg, eine Fledermaus, ein Wal aus Speckstein den Mort für mich gemacht hat, ein Beutel mit den ausgefallenen Schnurrhaaren meiner Katzen, ein Fake-Ausweis aus einer dystopischen Realität des Amerikas 2019, eine Hexenflasche und noch einiges mehr. Das klingt nach viel, ist es auch, aber es sind sehr kleine Dinge, deren Wirkung mächtig ist und darum bekommen sie ihren Platz.


Bücher und Hörspiele, zu denen Jess‘ immer wieder zurückkehrt, weil sie ihr gut tun.

 

 

Morton: An meinem Arbeitsplatz habe ich immer ein Heißgetränk: morgens Kaffee, zu allen anderen Tee. Schreibe ich auf Papier, so ist alles darin gegeben, den Stift über das Blatt zu führen. Ich finde es bemerkenswert, dass es bei weniger sinnlichen Reizen durch Papier, Füller oder Bleistift, weniger an Dingen um mich herum benötigt, als beim Schreiben am Computer. Hier brauche mehr analoge, sachliche Gegenstände, auf denen Hände und Augen ruhen: Tintenfässer, Kerzen, Bücher und Handschmeichler (ein gelber Jaspis). Ich habe digitale Bilder von Landschaften auf dem Desktop oder eine Reisebroschüre vorliegen, genauso wie Texte und Bücher, die zum jeweiligen Thema gehören und mich inspirieren.

Ob digital oder analog – ich habe gern ein weiteres Notizbuch für aufkommende Ideen bereit liegen. Camerons Rat folgend, begleitet mich bei Schreibfrust mein Künstlertotem, ein rosa Yoshi-Plüsch. Am liebsten schreibe ich zur Herbstzeit. Dann umgebe ich meine Schreibplätze mit gesammelten Laubblättern und den Früchten des Herbstes: Eicheln, Bucheckern, Kastanien und Nüssen.

 

Cameron empfiehlt jeden Morgen drei Seiten zu füllen, mit allem, was einem so durch den Kopf geht. Ihre „Morgenseiten“ begleiten uns auf besondere Weise.

Morton: Die Morgenseiten sind mir ein tägliches Ritual geworden, wie eine Literatenzigarette zum Kaffee. Nur gesünder und produktiver. Seit bald drei vier Jahren schreibe ich sie an den meisten Tagen und habe dabei immer freier Schreiben gelernt, was anfangs noch schwierig, sogar schmerzhaft gewesen ist. Da mir die Tätigkeit des Schreibens schon im Prozess des ersten Entwurfs meiner Projekte jeden Satz in perfekter Weise zu fertigen aufzudrängen schien, war es mir zunächst nicht vorstellbar, was das lose Schreiben überhaupt bringen solle. Doch das fehlende inhaltliche Ziel, sowie der nicht vorhandene Anspruch an Qualität, dies macht die Seiten zu einem befreienden Schreiben – es befreit mich vom langen Hadern und bringt mich ins Handeln in allen Lebensbereichen, wenn sie unwillkürlich Thema der Morgenseite werden.

Letztlich bedeutet es für meinen Tag ohne Morgenseite, dass sich die Gedanken über ihn verteilen und mich ungeordnete und auch zusammenhangslose Gedankenblitze ablenken. Mit den Morgenseiten erreiche ich für mich gesetzte Ziele leichter.

 

Ina: Ich habe die Morgenseiten immer mal wieder für mehrere Wochen am Stück geschrieben. In der Zeit passiert so viel mit mir, dass ich dann wieder eine Pause brauche. Ich empfinde die Seiten als ein Schreiben hin zu mir selbst. Die erste Seite ist meist sehr durcheinander und lose Gedanken reihen sich aneinander. Nach einiger Zeit bringe ich dann bestimmte Kernthemen auf das Papier. Das können Sorgen oder Ängste sein, ein Problem, mit dem ich nicht weiterkommen, aber auch überschwängliches, Dinge, die mich gerade faszinieren und beschäftigen, denen ich mich aber vielleicht nicht genug widmen kann oder nicht weiß, wie ich an sie rankomme. Auf der letzten Seite bekomme ich dann „Antworten“. Ich weiß, das klingt schräg, weil eigentlich bin ich selbst ja diejenige, die plötzlich die Lösungen ganz klar erkennt und niederschreibt. Dieser Prozess ist für mich sehr überwältigend, denn er bringt viel neuen Input, Ideen und Lösungen. Ich mache mir schon beim Schreiben der Morgenseiten einzelne Notizen. Oft lösen sie eine ganz akute Sache. Die anderen Notizen lege ich erstmal für ein oder zwei Wochen zur Seite und widme mich ihnen dann nach und nach.

Wenn ich die Morgenseite nicht schreibe, fehlen sie mir an den ersten Tagen sehr, weil im Kopf schnell wieder alles diffus und nicht so klar erscheint. Wenn ich damit nicht gut umgehen kann, schreibe ich die Morgenseiten wieder. Sie sind ein wertvolles Instrument, was ich dann nutze, wenn ich es unbedingt brauche oder mich auf dieses besondere Abenteuer einlassen will.

 

Jess: Zunächst war es eine echte Qual. Oft stand da: Meine Hand schmerzt. Mein Rücken schmerzt. Auf Seite 3: meine Seele schmerzt. Da wurde es dann interessant. Ich fand heraus, welchen Stift ich brauche, um mit der Hand gut schreiben zu können und auch die Seele ziept nicht mehr so sehr. 2018 machte ich eine lange Pause, denn ich war in Trauer. Rückblickend hätte es mir sicher gutgetan, aber ich konnte nicht. Als ich wieder begann, merkte ich, wie sehr sie mir gefehlt hatten. Wenn ich heute keine Morgenseiten schreibe, dann starte ich anders in den Tag. Es ist, als wäre ich weniger fokussiert und wüsste nicht ganz so genau, was ich erleben und erledigen will. Manchmal zwinge ich mich zu den Seiten, auch wenn da dann steht, dass ich Wäsche waschen will und dass es heute Pizza gibt. Manchmal versteckt sich dazwischen doch eine dringende Formulierung eines Wunsches.

Ich habe schon einige Male zurückgeblättert und festgestellt, dass ich mir viele meiner Wünsche erfüllt habe. Manche kleine, aber auch sehr große und lang gehegte. Das hätte ich vermutlich gar nicht bemerkt, wenn ich den Prozess nicht immer wieder aufgeschrieben hätte. Das ist ein gutes Gefühl, weil es mir zeigt, dass ich mich zielstrebig um mich und meine Bedürfnisse kümmere. Allerdings glaube ich, dass ich mir meiner Wünsche nicht so bewusst wäre, wenn ich sie nicht so oft formuliert und schriftlich festgehalten hätte. Über Wochen hinweg zu schreiben: „Ich werde dieses Skript im Mai abgeben, ich werde es tun, ich muss einfach, weil ich es will“ hat eine ganz andere Wirkung, als es zwischen Tür und Angel nur zu denken. Ich habe durch die Morgenseiten wohl auch gelernt, meine Ziele deutlich zu formulieren und sie sehr ernst zu nehmen.

 

Die inneren Kritiker – Begegnungen und Analysen

Jess: Er ist nie da, wenn ich still und brav für mich allein zufrieden bin. Er meldet sich, wenn ich glücklich mit meiner Arbeit bin und ich mich als Schriftstellerin mag. Wenn ich mit Ergebnissen und meiner Freude an die Öffentlichkeit gehen möchte, zum Beispiel auf Twitter, im Blog oder auf Veranstaltungen, dann funkt er mir kurz vorher dazwischen. Er sagt dann etwa: „Zeige mehr Demut. Gib nicht an. Du bist eingebildet.“ Er rollt auch mit den Augen und findet mich schrecklich lächerlich. Ich weiß diese Reaktionen des inneren Kritikers sogar auf konkrete Situationen und Personen in meinem Lebenslauf zurückzuführen, das habe ich in den Morgenseiten freigeschrieben. Denn auch da tauchte der Kritiker auf und streute überall Zweifel.

Es wird aber immer besser, weil ich weiß, dass es gar nicht meine eigenen Gedanken oder Ängste sind, sondern eigentlich die derjenigen, die einst solche ausbremsenden Dinge zu mir sagten. Stichwort: Verhinderter Künstler. Das sind Leute, die selbst gerne kreativ tätig wären, es aber aus verschiedenen Gründen nicht tun, und darum verhindern sie auch das kreative Glück anderer, um sich selbst damit zu beruhigen.

Ich sage meinem inneren Kritiker, dass er den Mund halten und sich verfatzen soll. Das tut mir erstmal gut. Dann nutze ich das im Buch empfohlene Totem als Symbol für mein inneres verletztes Künstlerkind und gebe ihm all den Zuspruch, den es gerade braucht. Inzwischen brauche ich dafür keine Minute mehr und dann ist die Sache abgehakt und ich kann weiterarbeiten.

 

Ina: Er meldet sich nicht nur wenn ich kreativ bin, sondern auch im Alltag. Beim Schreiben sagt er oft: du bist zu langsam. Im Alltag meint er, ich schaffe zu wenig.

Früher hat das dazu geführt, dass ich viel zu hektisch geschrieben habe, was die Überarbeitungszeit noch viel länger gemacht hat.

Ich hatte oft Angst, nicht jeden Tag ausgiebig zu nutzen und habe zig Sachen gemacht, mit dem Ergebnis, dass über lange Strecken nichts wirklich fertig wurde und ich mich total ausgepowert habe. Irgendwann habe ich festgestellt, dass mir dieses Verhalten weder guttut, noch dass ich Freude an den Dingen hatte, die ich gemacht habe. Ich versuche mich nun allem ganz und gar zu widmen und vor allem, nicht immer nur das Ziel vor Augen zu haben, um den nächsten Haken auf der To-do-Liste machen zu können.

Wenn der Kritiker nun meint, ich sei langsam beim Schreiben, kann ich ihm sagen, dass ich dafür den Genuss bei jedem Absatz empfinde und es sich bei der Überarbeitung auszahlen wird. Im Alltag freue ich mich über das, was ich geschafft habe und lobe und belohne mich dafür. Wenn ich Altpapier weggebracht habe, gönne ich mir eine Kugel Eis oder wenn ich nur öde Sachen machen musste, schaue ich einen besonders bunten und fröhlichen Film. Manchmal bin ich auch dankbar, wenn der Kritiker laut wird, denn dann setzt Trotz bei mir ein und ich denke: Weißt du was? Ich mache das wie ich will. Jetzt erst recht!

 

Morton: In jeder Möglichkeit zu schreiben verbirgt sich der Kritiker wie ein Teufel im Detail. Sei es ein Tweet, sei es das neue Kapitel einer literarischen oder wissenschaftlichen Arbeit, fast jedes Wort steht gegen den Zweifel an: „Ist das wichtig? Interessiert es überhaupt? Es gibt doch sicher mehr, bessere und würdigere Schreibende als mich.“ Allzu leicht vergesse ich, dass es nicht meine eigene Lust am Schreiben ist, die mich da anspricht. Natürlich nicht. Aber weil sich der Kritiker schon im Kopf am mentalen Immunsystem vorbeischlich, fällt er nicht so schnell auf und sieht aus wie ein wahrhaftiger Teil meines Selbst.

Bewusst wird er dann als das lähmende Neurotoxin, wenn ich im Gespräch mit anderen bin. Im Zusammensein liegt so viel mehr Potential, mehr Wissen, das zum Erkennen wird. Durch Camerons Definition vom Kritiker ist es mir möglich, die Entfremdung in den kritischen Stimmen zu erkennen. Dann stehe ich da wie Gandalf vor dem Balrog des Morgoth und rufe: Du kommst nicht in mein Herz!

 

Über Erkenntnisse und Ratschläge aus Camerons Buch, anderen Büchern oder von Künstler*innen, die in uns nachwirken und uns bereichert haben.

Ina: In Camerons Buch gibt es eine Übung, in der man sich daran erinnern soll, wodurch früher die eigene Phantasie beflügelt wurde. Bei mir waren es Spielzeugfiguren. Also habe ich mir eine Spielekiste angelegt und als erstes zog eine Dinosaurierfigur dort ein. Ein T-Rex. Er ist ganz bunt und seine Ausstrahlung gewaltig. Er erinnert mich daran, dass ich als Kind auch nur eine einzige Figur brauchte und rundherum entstand dann eine neue Welt. Er hilft mir, mich beim Schreiben daran zu erinnern, dass ich alles rund um eine Figur jederzeit sehen, fühlen und schmecken kann, wenn ich es möchte und brauche. Diese Kiste ist mittlerweile ein herrlich verrückter Ort, darin befinden sich Scharniere, Sticker, Farbtöpfe, Pinsel und Actionfiguren.

In Camerons Buch „Von der Kunst des kreativen Schreibens – Der Weg zum inspirierten Schriftsteller“ gibt es ein Kapitel über Ausdrücklichkeit. Die Kernaussage: Schreibe, was du sagen willst und zwar in all seiner Direktheit und Klarheit. Ich blockiere mich oft, weil ich angelernte Standartformulierungen und Sprachbilder benutze. Bei der Überarbeitung meiner Texte versuche ich mittlerweile diese aufzuspüren und frage mich: was willst du wirklich sagen? Die Formulierung wird danach meist viel einfacher, aber dennoch direkter. Ich habe das auf viele andere Bereiche übertragen. Von einem geschäftlichen Brief oder einer Mail schreibe ich oft eine erste Version und packe dort alles hinein, was ich wirklich sagen will. Das hat zwei Effekte: Zum einen ist dann alles mal raus, was ich zu sagen hatte. Das können auch gerne mal Beschimpfungen sein oder alles, was mich gerade an der Situation ärgert. Zudem komme ich viel schneller auf den Punkt, weil ich in der Ausdrücklichkeit klar und einfach bleibe. Ich muss in der zweiten Version meist gar nicht mehr viel ändern. Ja gut, die Sätze mit den Beschimpfungen nehme ich natürlich raus, aber ich kichere herzlich dabei.

Mich formen und bereichern Begegnungen mit anderen und ich denke, viele Menschen wissen oft gar nicht, was sie alles auslösen können, indem sie zuhören, ihre Erfahrungen teilen oder versuchen, sich in andere hineinzuversetzen. Ich durfte zum Beispiel für ein Foto-Projekt mal eine Schauspielschülerin einen Tag lang begleiten und konnte ihr beim Unterricht und ihren Proben zusehen. Das ist zwölf Jahre her und immer, wenn mir alles zu viel wird, besinne ich mich auf ihre besondere Energie, mit der sie jedem Augenblick begegnete. Ein Moment fließt in den anderen. Der Fokus liegt auf dem, was man jetzt gerade tut und zwar, mit all dem, was man gerade fähig ist, zu geben. Ohne Bewertung, ohne streng mit sich zu sein. Für mich ist das meine Definition von Leidenschaft und Hingabe geworden, die ich ohne sie, vielleicht so nie empfunden hätte.

 

Notizbücher für die Morgenseiten von Jess und Morton (oben).

 

Morton: Für mich sind die Morgenseiten zum Alltag geworden. Ich habe durch sie und das Buch Camerons auch gelernt, dass ich es mir und meiner Kreativität wert bin, mich mit Kleinigkeiten von großer Wirkung zu verwöhnen – das ist zum Beispiel ein Spaziergang mit meiner Lieblingsmusik oder ein neuer Stift, von dem ich noch herausfinden muss, wozu ich den eigentlich gebrauche. Aus dem Buch „Wonderbook“ von Jeff Vandermeer habe ich eine Arbeitsweise für Manuskripte übernommen: Eine Seite der Kladde beschriften, die andere für Notizen, Verbesserungen oder Skizzen freilassen. So lässt sich der Schreibprozess leichter auch auf Papier nachverfolgen, was wiederum Raum für neue Ideen lässt.

Cameron schlug vor, eine Collage vom eigenen Idealbild des Selbst als Künstler*in zu fertigen. Ich tat mich mit der Aufgabe schwer, aber Jess half mir und machte mir ein großartiges Geschenk: Sie fertigte die Collage für mich, was mich sehr glücklich macht. Wann immer ich sie an meiner Wand betrachte, bin ich von ihrem Blick auf meine Person und meine künstlerische Produktion gerührt, beflügelt und ein stückweit stärker als davor.

 

Jess: Ich empfinde Camerons Handlungsplan als eine der hilfreichsten Methoden zum Erreichen von Zielen. Man nimmt sich ein Herzensprojekt vor und schreibt auf, was man hierfür in fünf, drei, einem Jahr, in einem Monat, einer Woche und jetzt tun kann, um es zu realisieren. Ich habe das bisher für ein Kinderbuch, ein Hörspiel und meine Abschlussarbeit gemacht und bin jeweils im Zeitplan geblieben. Zu sehen, wie groß der Unterschied zwischen „Jetzt“ und „in fünf Jahren“ ist, tut gut. Es nimmt dem ganzen Vorhaben die Schwere, denn zu erkennen, dass sich ein Projekt in fünf Jahren vermutlich etabliert hat oder man die Sache eigentlich schon vergessen hat, ist erleichternd. Unter „Jetzt“ steht dann so etwas wie „Ich erstelle diesen Handlungsplan“ oder „Ich kaufe mir einen neuen Bleistift.“ Das ist so niedrigschwellig, da will man dann auch sofort loslegen.

Der Autor Austin Kleon hat in seinem Buch „Steal like an Artist“ über den Künstlerinnen-Stammbaum geschrieben. Man solle sich aus den Menschen, deren Kunst man sich nahe fühlt, seinen eigenen kreativen Stammbaum erstellen. Bei mir stehen da auf der Seite der Verstorbenen zum Beispiel Shirley Jackson, Lucy Maud Montgomery, Peter Lustig und meine Oma. Es tut gut, mich als Person zu betrachten, die künstlerisch von ihnen abstammt. Denn ihre Arbeiten wirken in mir nach und wenn man genau hinsieht, dann erkennt man das auch. Neben mir steht ihr, Ina und Mort, und noch andere Kreative, die mir etwas bedeuten.

Ansonsten ziehe ich viel Kraft für mein Tun aus Begegnungen mit Menschen, die ich für ihre Arbeit bewundere. Als ich zu Sibylle Berg sagte, ich würde gerne das, was sie als Live-Performance zu ihrem Buch „GRM“ tat, auch mal tun will, antwortete sie schlicht „Mach das doch!“ Wenn ich daran zurückdenke, dann sage ich zu mir: Ja, warum eigentlich nicht?

Meine Oma, die von Beruf Musikerin war, sagte immer, man muss die Dinge einfach ausprobieren und wenn es nichts für einen ist, dann lässt man es halt wieder. Sie hat mir mit dieser Einstellung vorgelebt, was es heißt, selbstständig kreativ tätig zu sein. Man hört niemals damit auf und hat dabei auch eine Menge Spaß, wenn man sich gestattet, wirklich neugierig zu sein.

 

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